.Träume - Illusionen

Natalia Ginzburg – „Die Straße in die Stadt“

von Frank Becker

Träume - Illusionen
 
Natalia Ginzburgs Erstling – ein Meisterstück
 
Delia glaubt in der muffigen Enge des dörflichen Elternhauses zu ersticken. Die Verhältnisse im mehr als schlichten, kinderreichen Elternhaus sind beengt, das Leben langweilig. Delia ist 16 und sehnt sich nach dem eleganten, vermeintlich freien Leben in der Stadt, in der ihre ältere Schwester Azalea, die es „geschafft“ hat: Ehemann, zwei Kinder, Dienstmädchen, Pelzmantel, Geliebter. Das ist Delias Traum. So will sie es auch haben. Natalia Ginzburg (1916-1991) hat die Worte, jene schier ausweglose Situation voller Träume und Illusionen ohne Umschweife in nüchterner Sachlichkeit zu erzählen – und Maja Pflug hat eine überzeugende Übersetzung geliefert.

Fast täglich geht Delia den Weg in die Stadt, um das bunte Leben dort zu betrachten. Mehr ist nicht drin, es sei denn, Azalea oder ihr Bruder Giovanni, der in der Stadt arbeitet, laden sie ein. Manchmal trifft sie auch den Vetter Nini, mit dem sie aufgewachsen ist und der in der Stadt bei seiner Geliebten lebt. Im Dorf bleibt ihr nur der heimliche Umgang mit Giulio, dem Sohn des Dorfarztes, der hinter ihr her ist. Beider Eltern wollen diese Liaison unbedingt unterbinden. Das möchte am liebsten auch Nini, der wohl wirklich schon lange in Delia verliebt ist. Delia genießt es, von dem Bücherwurm Nini begehrt zu sein, spürt auch eine Liebe zu ihm, holt ihn fast täglich von der Arbeit ab, tut aber dann doch auf Drängen Giulios das naheliegend Falsche und wird – wir sind im puritanischen Italien der 1940er – von ihm schwanger.

Man ist als von der Erzählkunst Natalia Ginzburgs gefesselter Leser unmittelbar im Geschehen, folgt Delia in die „Verbannung“ zu einer ungeliebten Tante in ein Nachbardorf – Delias Schwangerschaft soll den Blicken und dem Klatsch des eigenen Dorfes entzogen werden – und schließlich in die zwangsläufige Ehe, in der ihr neues Leben wie ein Déja vu das der älteren Schwester spiegelt. Ginzburgs Fähigkeit, die Ausweglosigkeit, die Stereotypen bestimmter bürgerlicher Konstellationen zu beschreiben, ihr Eindringen in die Köpfe ihrer dramatis personae denen die Fähigkeit fehlt, das wirkliche Glück zu finden, sind brillant. Ein Klassiker der neorealistischen modernen italienischen Literatur, 1942 erstmals erschienen. Sehr zu empfehlen.
 
Natalia Ginzburg – „Die Straße in die Stadt“
Roman – Aus dem Italienischen von Maja Pflug
© 1997/2023 (4. Auflage) Wagenbach SALTO, 107 Seiten, Ganzleinen, Fadenheftung – ISBN 9783803113795
20,- €
 
Weitere Informationen: www.wagenbach.de